Das Sichtfahrgebot ist eine der wichtigsten Regeln im Straßenverkehr. Es wird auch als „goldene Regel des Verkehrs“ bezeichnet (Landgericht (LG) Freiburg, Urteil vom 25. Februar 2008, Az.: 7 Ns 520 Js 14833/06, Rn. 12). Fahren auf Sichtweite bedeutet, dass der Fahrer in der Lage sein muss, vor einem Hindernis, das sich bereits auf der Straße befindet, innerhalb der übersehbaren Strecke anzuhalten (Oberlandesgericht (OLG) Nürnberg, Urteil vom 22. Dezember 2006, Az.: 5 U 1921/06, Rn. 20; ähnlich Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 23. Juni 1987, Az.: VI ZR 188/86, Rn. 12). Seit Jahrzehnten stellt die Rechtsprechung demnach hinsichtlich der Einhaltung des Sichtfahrgebotes hohe Anforderungen an den Fahrer, wobei es in der Praxis häufig nicht beachtet wird (OLG Köln, Urteil vom 11. Oktober 2002, Az.: 3 U 26/02, Rn. 34).

Gesetzliche Regelung

Das Sichtfahrtgebot ist in § 3 Abs. 1 Satz 4 der Straßenverkehrsordnung (StVO) wie folgt geregelt:

Es darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann.

Was fällt darunter, und was nicht?

Das gilt nicht nur für Kraftfahrzeuge, sondern auch für Radfahrer (OLG Hamm, Urteil vom 09. November 2001, Az.: 9 U 252/98, Rn. 24). Das Sichtfahrgebot findet seine Grenze am Vertrauensgrundsatz. Es wirkt nicht zugunsten eines Verkehrsteilnehmers, der sich selbst über die Verkehrsregeln hinwegsetzt (BGH, Urteil vom 11. Januar 2005, Az.: VI ZR 352/03, Rn. 22; ähnlich BGH, Urteil vom 22. Februar 2000; Az.: VI ZR 92/99, Rn. 4).

Das Sichtfahrgebot auf Autobahnen

In § 18 StVO ist eine Lockerung des Sichtfahrgebots für Autobahnen vorgesehen:

Wer auf der Autobahn mit Abblendlicht fährt, braucht seine Geschwindigkeit nicht der Reichweite des Abblendlichts anzupassen, wenn

  1. die Schlussleuchten des vorausfahrenden Kraftfahrzeugs klar erkennbar sind und ein ausreichender Abstand von ihm eingehalten wird oder
  2. der Verlauf der Fahrbahn durch Leiteinrichtungen mit Rückstrahlern und, zusammen mit fremdem Licht, Hindernisse rechtzeitig erkennbar sind.

Diese Regelung stellt laut BGH keine Ausnahme zum Sichtfahrgebot dar. Die Regelung soll nur dazu führen, dass die besonderen Umstände einer Autobahnfahrt berücksichtigt werden. Dazu gehören die größere Übersichtlichkeit der Fahrbahn, der Ausschluss nicht motorisierter Verkehrsteilnehmer, das Fehlen des Querverkehrs, die zusätzlichen Lichtquellen durch Leiteinrichtungen mit Rückstrahlern und die Abschwächung der Blendwirkung entgegenkommender Kraftfahrzeuge (BGH, Urteil vom 15. Mai 1984, Az.: VI ZR 161/82, Rn. 11).

Was droht beim Verstoß?

Wer gegen das Sichtfahrgebot verstößt, begeht nicht allein deswegen eine Straftat. Allerdings ist es trotzdem ratsam, sich an das Gebot zu halten. Denn wer sich nicht daran hält, und deswegen einen Unfall verursacht, der haftet zivilrechtlich oder sogar strafrechtlich. Außerdem stellt das Verletzen des Sichtfahrgebots eine Ordnungswidrigkeit nach § 24 Abs. 1 StVG, § 49 Abs. 1 Nr. 3 StVO, Anlage 1 Abschnitt 1 Nummer 8 BKatV dar. Es kann also auch ein Bußgeld verhängt werden.

Zivilrechtliche Haftung

Unter „zivilrechtlicher Haftung ist zu verstehen, wer den entstandenen Schaden wieder beheben muss. In Deutschland ist gemäß § 1 Pflichtversicherungsgesetz (PflVG) jeder Fahrzeughalter dazu verpflichtet, eine Kfz-Haftpflichtversicherung abzuschließen, die für von ihm verursachte Personen- und Sachschäden zahlen muss. Das heißt, dass den Unfallverursacher grundsätzlich bei einem Unfall keine Kosten treffen, die er anderen verursacht. Allerdings muss er die Kosten tragen, die über die Versicherungssumme hinausgehen oder nicht von der Versicherung gedeckt sind. Außerdem muss der Verursacher eines Unfalls die eigenen Reparaturkosten tragen (es sei denn, er hat eine Vollkaskoversicherung). Es wird sich zudem die Prämie erhöhen, die er gegenüber dem Haftpflichtversicherer zahlen muss.

Strafrechtliche Haftung

Zwar gibt es keine fahrlässige Sachbeschädigung. Wer also einen Unfall mit Blechschaden verursacht, und das ohne Vorsatz tut, begeht keine Straftat. Aber wenn es bei einem Unfall Personenschäden gibt, kommen fahrlässige Körperverletzung (§ 229 des Strafgesetzbuchs (StGB)) und fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) in Betracht, denn das Verletzen des Sichtfahrgebots stellt eine sogenannte „objektive Sorgfaltspflichtverletzung“ dar.

Beispiele für Verstöße

  • Wer bei Dunkelheit auf einer Autobahn ohne Grund mit Abblendlicht fährt, handelt grob fahrlässig, wenn er mit einer Geschwindigkeit von mehr als 60 km/h fährt (OLG Frankfurt, Urteil vom 21. Juni 1989, Az.: 7 U 190/88, Rn. 26).
  • Ein Kraftfahrer, der bei Nacht auf ein unbeleuchtetes unbewegtes Hindernis auffährt, trifft regelmäßig ein Verschulden an diesem Unfall (BGH, Urteil vom 27. Juni 1972, Az.: VI ZR 184/71, Rn. 10).
  • Ein Fahrer, der nachts mit auf der Fahrbahn stehenden Pferden kollidiert, hat zumindest den Unfall mitverursacht. Hierfür spricht der Beweis des ersten Anscheins (OLG Hamm, Urteil vom 25. April 2006, Az.: 9 U 7/05, Rn. 19). In diesem Fall traf den Fahrer eine Eigenhaftungsquote von 1/3.
  • Vom Sichtfahrgebot ist nicht die Pflicht umfasst, langsamer zu fahren, nur weil theoretisch unbeaufsichtigte Kinder oder andere Fußgänger zwischen parkenden Fahrzeugen unvorsichtig die Fahrbahn betreten könnten (BGH, Urteil vom 12. Mai 1998, Az.: VI ZR 124/97, Rn. 9). Sollte der Fahrer aber tatsächlich Kinder sehen, so sind Geschwindigkeit und Bremsbereitschaft gemäß § 3 Abs. 2a StVO anzupassen.
  • Durch den Vertrauensgrundsatz begrenzt wird das Sichtfahrgebot für solche Hindernisse, mit denen der Kraftfahrer unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt rechnen muss. Der Fahrer muss also einen völlig unmotiviert und plötzlich auf ein entgegenkommendes Kraftfahrzeug zu rennenden Fußgänger nicht einkalkulieren (Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17. Februar 2012). In diesem Fall ging es um den Vorwurf der fahrlässigen Tötung, der durch das OLG verneint wurde.
  • Wer bei Dunkelheit und unbeleuchteter, nasser Straße mit Abblendlicht schneller als 40 km/h fährt, verletzt das Sichtfahrgebot (OLG Köln, Urteil vom 11. Oktober 2002).
  • Wegen Fahrlässiger Tötung ist strafbar, wer mit einem 36 Tonnen schweren Lastzug bei einer Sichtweite von 30 Metern eine Geschwindigkeit von 86 km/h fährt und dadurch einen tödlichen Unfall verursacht (LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 25. Februar 2008, Az.: 7 Ns 520 Js 14833/06 – AK 174/07, Rn. 9).
  • Hier ein Beispiel zur zivilrechtlichen Haftungsverteilung bei Verletzung des Sichtfahrtgebots

Umut Schleyer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht in Berlin