1. Erklärung des Begriffs Nachbesichtigung

Die Nachbesichtigung spielt in der Unfallregulierung eine große Rolle. Sie wird durch die gegnerische Haftpflichtversicherung gerne als Trick angewendet, um die Ansprüche des Unfallgeschädigten unberechtigt zu kürzen. Lesen Sie unten mehr. Eine Nachbesichtigung kommt aber auch in Kaskofällen vor, also bei vertraglichen Ansprüchen des Versicherungsnehmers gegen seine Kaskoversicherung. Man muss unter anderem folgende Möglichkeiten unterscheiden:

I. Kaskofall

Im Kaskorecht geht es um vertragliche Ansprüche des Versicherungsnehmers gegen seine Kaskoversicherung. Hier ist daher der Kaskovertrag entscheidend. Der Versicherungsnehmer hat die Möglichkeit durch die Wahl einer bestimmten Vertragsart, Art und Umfang seines Versicherungsschutzes gegen verschiedene Versicherungsfälle (Schadenfälle) zu versichern, wie zum Beispiel Zerstörung, Beschädigung, Entwendung usw. Daher muss man den jeweiligen Kaskovertrag kennen, um zu wissen, ob ein Versicherungsfall vorliegt, dieser Versichert ist und welche Voraussetzungen für eine Regulierung durch die Versicherung vorliegen müssen. Oftmals sind die vertraglichen Ansprüche anders geregelt, als bei einem Unfall.

In den Allgemeine Bedingungen für die Kfz-Versicherung (AKB) 2008 – Stand 17.03.2010, ist unter anderem bei Beschädigung unter Punkt A.2.7 geregelt:

„Was zahlen wir bei Beschädigung?
Reparatur

Wird das Fahrzeug beschädigt, zahlen wir die für die Reparatur erforderlichen Kosten bis zu folgenden Obergrenzen:

  • Wird das Fahrzeug vollständig und fachgerecht repariert, zahlen wir die hierfür erforderlichen Kosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts nach A.2.6.6, wenn Sie uns dies durch eine Rechnung nachweisen. Fehlt dieser Nachweis, zahlen wir entsprechend A.2.7.1.b.
  • Wird das Fahrzeug nicht, nicht vollständig oder nicht fachgerecht repariert, zahlen wir die erforderlichen Kosten einer vollständigen Reparatur bis zur Höhe des um den Restwert verminderten Wiederbeschaffungswerts (siehe A.2.6.6 und A.2.6.7).

Wenn der Versicherungsnehmer nun behauptet, er habe das Fahrzeug vollständig und fachgerecht reparieren lassen, dann fordern Versicherungen oft eine Nachbesichtigung. Dies erfolgt meistens durch Vorstellung des Fahrzeugs bei einem Kfz-Sachverständigen. Dies ist oft eine große Überwachungsorganisation wie DEKRA, TÜV, GTÜ, KÜS und so weiter.

Nachbesichtigung kfz

II. Unfall – Haftpflichtfall

Bei einem Unfall liegt ein sogenannter Haftpflichtfall vor. Hier finden die gesetzlichen Vorschriften aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch in Verbindung mit den Regeln der Straßenverkehrsordnung und dem Straßenverkehrsgesetz usw. Anwendung. Hier gilt der Grundsatz, dass der Unfallgeschädigte so zu stellen ist, wie ohne Unfall. Das heisst, dass ihm grundsätzlich alle unfallbedingten Schäden zu ersetzen sind. Dazu können je nach Fall unter anderem die Reparaturkosten, die Unfallpauschale, die Wertminderung, der Nutzungsausfall, die UPE-Aufschläge, die Kosten für eine Beilackierung, die Abschleppkosten, die Gutachterkosten, die Anwaltskosten, die Heilbehandlungskosten, der Haushaltsführungsschaden, das Schmerzensgeld usw. zählen. Diese Aufzählung ist nicht abschließend.

Nach einem unverschuldeten Unfall fordert die gegnerische Haftpflichtversicherung sehr oft sofort, nach einer erfolgter Begutachtung durch einen Gutachter oder nach einer erfolgten Reparatur eine sogenannte Nachbesichtigung. Das Begehren erfolgt meistens pauschal und ohne eine konkrete Begründung. Die gegnerischen Haftpflichtversicherungen beauftragen häufig auch Sachverständigen-Büros mit der Durchführung der Nachbesichtigung.

2. Definition des Begriffs Nachbesichtigung

Der Begriff der Nachbesichtigung ist gesetzlich nicht geregelt.

3. Tricks der Versicherungen zum Thema Nachbesichtigung

Die Nachbesichtigung ist einer der beliebtesten Mittel der gegnerischen Haftpflichtversicherungen, um die Ansprüche des Unfallgeschädigten zu kürzen, zu verzögern oder insgesamt abzulehnen. Leider fallen sehr viele Unfallgeschädigte, die anwaltlich nicht oder nur schlecht beraten werden, auf diesen Trick herein. Man muss verschiedene Konstellationen unterscheiden:

I. nach dem Unfall

Oft kommt es vor, dass der Unfallgeschädigter versucht, sich selbst um die Regulierung zu kümmern. Im Zuge dessen ruft der Unfallgeschädigte erstmal beim Zentralruf der Autoversicherer an, da deren Telefonnummer auf dem Polizeizettel angegeben ist. Hier wird man in der Regel sofort an die gegnerische Haftpflichtversicherung weitergeleitet, ob man will oder nicht. Dort wartet dann sehr gut geschultes Personal und tut alles, was für den Arbeitgeber –nämlich die gegnerische Haftpflichtversicherung– gut ist. Hier wird in der Regel sofort angeboten, einen hauseigenen Gutachter „kostenfrei“ das unfallbeschädigte Fahrzeug besichtigen bzw. begutachten zu lassen. Der hauseigene Gutachter wird in der Regel so kalkulieren, dass sein Arbeitgeber –nämlich die gegnerische Haftpflichtversicherung– gut dasteht. Der Schaden wird also gerne „klein gerechnet„.

Aus den Medien und von Berichten der Kanzlei Schleyer ist uns bekannt, dass die Differenzen zwischen der Kalkulation eines freien Sachverständigen und dem hauseigenen Gutachter der gegnerischen Haftpflichtversicherung mehrere tausend Euro betragen können. Daher ist man gut beraten, wenn man sofort einen eigenen und unabhängigen Gutachter beauftragt.

Wenn man das nicht weiß, dann erhält man oft eine kurze Kalkulation und binnen weniger Tage eine Abrechnung der gegnerischen Haftpflichtversicherung. Der kalkulierte Betrag ist dann auch binnen weniger Tage auf dem Konto des Unfallgeschädigten. Der Normalbürger ist dann glücklich und ahnt nicht, dass er „betrogen“ wurde. Oft wird dann auch gesagt, gut, dass kein Anwalt beauftragt wurde. Ohne Anwalt ging es viel schneller.

Sie sollten aber wissen, dass die gegnerische Haftpflichtversicherung nichts zu verschenken hat. Zur Veranschaulichung dient folgendes Beispiel:

A wurde unverschuldet in einen Verkehrsunfall verwickelt und wird von der gegnerischen Haftpflichtversicherung professionell „betreut“. A erhält seinen vermeintlichen Schaden -2.500,-€- innerhalb von 10 Tagen.

Was er nicht weiß ist , dass er bei Beauftragung eines eigenen Gutachters und eines kompetenten Anwalts vielleicht 4.800,- € in 5 Wochen erhalten hätte. Das sagt ihm natürlich keiner, erst Recht nicht die gegnerische Haftpflichtversicherung. So geht es vielen Unfallgeschädigten.

II. nach der Begutachtung durch einen selbst beauftragten Gutachter

Wenn der Unfallgeschädigte einen eigenen Gutachter beauftragt hat und dieses der gegnerischen Haftpflichtvesicherung vorliegt, kommt der pauschale Einwand, dass man das Fahrzeug nachbesichtigen wolle. Eine Begründung gibt es in der Regel nicht. Manchmal gibt es den pauschalen Hinweis, dass man das Gutachten nicht verstanden hat oder einige Bilder nicht erkennen könne.

Wenn man dann, weil man nicht oder nur schlecht beraten wird, das unfallbeschädigte Fahrzeug nachbesichtigen lässt, gibt es eine böse Überraschung. Es kommt nicht selten vor, dass das bereits bestehende Gutachten einfach als unbrauchbar bezeichnet wird und die „neue“ Kalkulation durch den „hauseigenen Gutachter“ der gegnersichen Haftpflichtversicherung mehrere tausend Euro geringer ausfällt. Es kann auch unter Umständen sein, dass der Schaden groß gerechnet wird, weil man manchmal im Falle eines sogenannten Totalschadens weniger Geld erhält, als wenn ein Reparaturfall vorliegen würde. Der hauseigene Gutachter der gegnerischen Versicherung kalkuliert grundsätzlich so, dass am Ende weniger rauskommt. Seinem Arbeitgeber muss es ja schließlich gut gehen. Es kann nämlich sein, dass der Anspruch des Unfallgeschädigten im Falle eines Totalschadens niedriger ist, als im Falle eines Reparaturfalls bzw. bei einer fiktiven Abrechnung. Daher ist man gut beraten, wenn man gut beraten ist.

Wenn nach der Nachbesichtigung, ein sogenanntes Gegengutachten in der Welt ist, wird der Betrag den der hauseigene Gutachter errechnet hat, sofort überwiesen. Weitere Zahlungen werden –unter Hinweis auf das Gegengutachten– hartnäckig verweigert. Der Unfallgeschädigte muss dann, um an sein Recht zu kommen, wie so häufig klagen.

Die Krönung ist, dass in diesen Fällen die gegnerische Haftpflichtversicherung die Bezahlung der entstandenen Gutachterkosten ebenfalls –in der Regel zu Unrecht– verweigert. Der Unfallgeschädigte kriegt also nicht nur weniger Geld, er bleibt auch auf den Gutachterkosten und ein Teil seines Schadens sitzen.

Nachbesichtigung kfz

III. komplette Zahlungsverweigerung

Das Schlimmste was einem Unfallgeschädigten nach einer Nachbesichtigung passieren kann (egal ob sofort oder nach einer Begutachtung) ist die komplette Zahlungsverweigerung der gegnerischen Haftpflichtversicherung. In solchen Fällen wird dann unter Bezugnahme auf das Gutachten des hauseigenen Gutachters argumentiert, der Unfallschaden könne nicht aus dem streitgegenständlichen Unfall stammen, das Schadensbild sei nicht kompatibel, es gab Vorschäden oder Altschäden wurden nicht berücksichtigt. Die Tricks der Versicherungen sind scheinbar unendlich.

Auch in diesem Fall bleibt man auf den Gutachterkosten sitzen und ist gezwungen zu klagen.

4. Tipps zum Thema Nachbesichtigung

Man sollte als Unfallgeschädigter Wissen, dass die gegnerischen Haftpflichtversicherungen sehr professionell aufgestellt sind und entsprechend schnell sowie effektiv handeln. Jede Versicherung ist naturgemäß daran interessiert, viel einzunehmen und möglichst wenig auszugeben. Das liegt auf der Hand.

Man sollte aber auch wissen, dass Versicherungen in fast allen Bereichen sogenannte Statistiken führen. Das Verhalten von Fahrzeughaltern, Fahrern, versicherten Personen, Gutachtern, Werkstätten, Anwälten und so weiter wird gespeichert. Versicherungen wissen in fast allen Lebenssituationen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Unfallgeschädigter zum Anwalt geht, über eine Rechtsschutzversicherung verfügt oder sich traut eine Klage zu erheben. In Kenntnis dieser Zahlen, wissen die Versicherungen sehr wohl wie sie sich zu verhalten haben. Die Versicherungen wissen genau, bei welchem Anwalt oder bei welcher Werkstatt sie wie weit gehen können!

Wer in solch einer Situation glaubt, dass er ohne professionelle Hilfe das bekommt was ihm zusteht, irrt und wird von der Versicherung in der Luft zerfetzt, ohne dass er es merkt. Das ist die Realität.

Nachbesichtigung kfz

Infolgedessen sollte man wissen, dass die gegnerische Haftpflichtversicherung nach einem Unfall grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Nachbesichtigung hat. Dazu gibt es diverse Gerichtsentscheidungen.

Das Landgericht Kleve führt unter anderem unter Bezugnahme auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs dazu Folgendes aus:

„Der Geschädigte ist berechtigt, sich zum Nachweis seines Schadens auf private Schätzgutachten eines anerkannten Sachverständigen zu beziehen. Er darf seinen Schaden allein auf der Grundlage eines derartigen Gutachtens abrechnen, das auch als Basis für die Schätzung des Reparaturschadens durch ein Gericht gemäß § 287 Abs. 1 ZPO in der Regel ausreicht. Der Schädiger hat daher auch grundsätzlich keinen Anspruch auf Nachbesichtigung eines verunfallten Fahrzeuges.

„Dieses gilt auch, wenn die vom Privatgutachter gefertigten Lichtbilder des beschädigten Fahrzeuges wegen ungünstiger Perspektive und Lichtreflexen nur unzureichend zu erkennen sind, sofern in dem schriftlichen Teil des Gutachtens die Fahrzeugschäden und Reparaturkosten im Einzelnen beschrieben und aufgelistet sind.“

Gibt der Geschädigte nach der Aufforderung der Kfz-Haftpflichtversicherung, ihr eine Nachbesichtigung des bereits auf Veranlassung des Geschädigten untersuchten Pkw zu ermöglichen, unrichtige oder zumindest irreführende Auskünfte, hat dies mit der Höhe des Schadens nicht zu tun und stellt auch kein tragfähiges Indiz für die Annahme einer Täuschung über den Fahrzeugschaden dar.“

Das Landgericht München bestätigt die o.g. Rechtsauffassung mit folgender Begründung:

„Der Haftpflichtversicherer hat in der Regel keinen Anspruch auf Nachbesichtigung des unfallgeschädigten Kfz. Die Kammer ist ebenso wie das Erstgericht der Auffassung, dass es einen generellen Anspruch auf „Nachbesichtigung“ nicht gibt. In aller Regel wird ja das Schadengutachten durch den Geschädigten zur Beweissicherung erholt, um im späteren Prozess die Möglichkeit zu geben, über Rechnungen des Gutachtens und die Höhe des Schadens nachzuprüfen. In aller Regel wird das geschädigte Fahrzeug nicht mehr zur Verfügung stehen. In vielen Fällen wird über das Fahrzeug auch bereits anderweitig verfügt worden sein, so dass es überhaupt nicht mehr zu einer Besichtigung zur Verfügung steht.“

„Ist ein Kfz bei einem Unfall beschädigt worden, so kann der Geschädigte von dem ersatzpflichtigen Schädiger statt der Herstellung durch diesen (§ 249 S. 1 BGB) den zur Herstellung erforderlichen Geldbetrag für eine von ihm selbst veranlasste Reparatur verlangen (§ 249 S. 2 BGB). Dieser Geldbetrag bemisst sich danach, was vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Eigentümers in der Lage des Geschädigten für die Instandsetzung des Fahrzeuges zweckmäßig und angemessen erscheint (so der Senat in ständiger Rechtsprechung, vgl., BGH ZfS 89, 299). Für das, was zur Schadensbeseitigung nach § 249 S. 2 BGB erforderlich ist, ist ein objektivierender, nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten typisierender Maßstab anzulegen. Dafür kann das Schätzungsgutachten eines anerkannten Kfz-Sachverständigen über die Höhe der voraussichtlichen Reparaturkosten für das Gericht eine sachgerechte Grundlage sein.“

Der in Berlin ansässigen und deutschlandweit tätigen Kanzlei Schleyer ist es vor dem Landgericht Berlin gelungen, ebenfalls im Urteil feststellen zu lassen, dass die gegnerische Haftpflichtversicherung grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Nachbesichtigung hat. In dem Urteil führt das Landgericht Berlin mit Urteil vom 13.07.2011 unter anderem Folgendes aus:

„Die Überlassung eines beschädigten Gegenstandes zu Prüfungszwecken ist etwas grundsätzlich anderes als die Vorlegung von Belegen. Deshalb steht dem Kfz-Haftpflichtversicherer regelmäßig kein Anspruch auf Nachbesichtigung des unfallgeschädigten Fahrzeuges zu. Der Kläger schuldet daher allenfalls die Vorlegung von Belegen und nicht etwa die Vorstellung des Fahrzeugs zu einer Besichtigung durch Beauftragte der Beklagten […] der Geschädigte schuldet auch keine Begründung dafür, warum er davon absehen will.“

Das Landgericht Berlin hat ebenfalls ausgeführt, dass die bloße Angabe, die Kalkulation des Sachverständigen sei nicht ohne weiteres nachvollziehbar, genügt jedenfalls nicht, um ein Nachbesichtigungsrecht mit der Folge zulässigen gänzlichen Zahlungsverweigerung zu begründen

Obwohl diese Urteile existieren und bekannt sind, wird oft eine Nachbesichtigung verlangt und die Zahlung grundlos verweigert oder die Ansprüche des Unfallgeschädigten unberechtigt gekürzt. Wenn man bedenkt, dass im Jahr ca. 20 Milliarden Euro durch die Haftpflichtversicherungen zur Begleichung von Unfallkosten bezahlt werden, kann man sich vorstellen, mit welch harten Bandagen gekämpft wird.

Wenn es den Versicherung jährlich gelingt, nur 10% der berechtigten Ansprüche zu kürzen, reden wir über eine Summe von ca. 2 Milliarden Euro. Branchenkenner behaupten, dass diese Marke jährlich erreicht wird. Nun kann man sich vorstellen, wieviel Geld die Unfallgeschädigten, die nicht oder nur schlecht beraten werden, jährlich unnötig verschenken.

Wenn Sie nicht dazu gehören möchten, sollten Sie von Anfang einen kompetenten Anwalt beauftragen.

Dieser Text wurde durch die Kanzlei Schleyer erstellt.