Beschluss des Oberlandesgerichts Thüringen vom 14.08.2009 zum Aktenzeichen 4 U 459/09:

Orientierungssatz
Kommt es bei einer Entbindung infolge einer schuldhaft verzögerten Notsectio zu einer massiven Sauerstoffunterversorgung, in deren Folge das Kind von Geburt an schwerstgeistig und -körperlich behindert, blind und darüber hinaus bettlägerig und im Wachkoma liegend, an ein Atemüberwachungsgerät angeschlossen ist, so ist neben der Feststellung der – auf zukünftige materielle und immaterielle Schäden bezogenen – Ersatzpflicht ein Schmerzensgeld in Höhe von 600.000 Euro angemessen.

Tenor
Die Parteien werden darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 06.05.2009 – Az.: 2 O 15/05 – durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen (§ 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO).

Die Beklagte erhält Gelegenheit zur Stellungnahme bis 04.09.2009 .

Gründe

Die Berufung der Beklagten hat nach einstimmiger Auffassung des Senats keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung; sie erfordert ferner keine Entscheidung des Senats im Urteilsverfahren zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 – 3 ZPO).

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen eines (in zweiter Instanz auch in seiner Beurteilung als grob nicht mehr streitigen) Behandlungsfehlers anlässlich seiner Entbindung am 25.03.1993 auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch.

Das Landgericht hat der Klage mit der Begründung stattgegeben, die Beklagte habe die höchstens tolerierbare E-E-Zeit von 20 Minuten überschritten und die nach der Feststellung des steilflankigen Abfalls der Herzfrequenz aus vitaler kindlicher Indikation zwingend erforderliche schnellstmögliche Entbindung erst nach rund 30 Minuten eingeleitet; durch diese speziell in einem Perinatalzentrum nicht akzeptable, aus (fach)-ärztlicher Sicht nicht mehr nachvollziehbare und verständliche Verzögerung sei es zu einer massiven Sauerstoffunterversorgung gekommen, in deren Folge der Kläger von Geburt an schwerstgeistig und -körperlich behindert sei. Neben der Feststellung der – auf zukünftige materielle und immaterielle Schäden bezogenen – Ersatzpflicht hat das Landgericht die Beklagte zur Zahlung des begehrten (bezifferten) materiellen Schadensersatzes und – insoweit um 100.000,– Euro über die Mindestvorstellung der Klägerseite hinausgehend – zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 600.000,–Euro verurteilt.

Nur gegen diese über einen Betrag von 500.000,– Euro hinausgehende Verurteilung richtet sich die zulässige Berufung der Beklagten, die in der Sache aber keine Aussicht auf Erfolg hat.

Ob dem Landgericht mit der Erwägung, die Beklagte habe trotz ihrer seit September 2006 (nach der Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. K.), spätestens aber seit November 2007 (nach Vorlage des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Ki.) zweifelsfrei feststehenden Haftung eine Regulierung weiterhin ungebührlich verweigert und verzögert, die mit der Berufung gerügten Tatsachen- und Rechtsfehler unterlaufen ist, kann offen bleiben. Die angegriffene Entscheidung beruht jedenfalls hierauf nicht, wie es §§ 513, 546 ZPO für einen erfolgreichen Berufungsangriff voraussetzen. Im Ergebnis gibt es gegen die Höhe des vom Landgericht zugesprochenen Schmerzensgelds nichts zu erinnern.

Dem Kläger ist durch den groben Behandlungsfehler bei seiner Geburt – wie es das Landgericht anschaulich formuliert hat – „jede Möglichkeit einer normalen körperlichen und geistigen Entwicklung genommen worden“. Er ist von Geburt an schwerstgeistig und – körperlich behindert, ist beidseitig blind, bettlägerig und – heute im Wachkoma liegend – an ein Atemüberwachungsgerät angeschlossen; d.h. rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen. Bei einer so massiven, gravierender kaum vorstellbaren schwersten Schädigung von Geburt an, die mit dem weitgehenden Erlöschen sämtlicher geistigen und körperlichen Fähigkeiten, ja mit der Zerstörung der Persönlichkeit des Klägers einhergeht, kann der Senat die Wertung des Landgerichts nur unterstreichen, dass die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes nach einer „herausragenden“ Entschädigung verlangt. Allein die vorstehenden Gesichtspunkte rechtfertigen daher den vom Landgericht mit Augenmaß zugesprochenen Schmerzensgeldbetrag von 600.000,– Euro.

Der Beklagten wird nahegelegt, die ersichtlich unbegründete Berufung nicht zuletzt aus Kostengründen innerhalb der gesetzten Stellungnahmefrist zurückzunehmen; auf die aus GKG-KV 1222/§ 34 GKG folgende Reduzierung der Gerichtskosten wird ausdrücklich hingewiesen.