Der Begriff „Bestimmtheitsgebot“ hat vor allem im deutschen Verfassungsrecht und im Strafrecht eine große Bedeutung. Das Bestimmtheitsgebot besagt (vereinfacht gesagt), dass jede Rechtsnorm, die etwas unter Strafe stellt, verständlich sein muss. So verständlich, dass man noch erkennen kann, was unter Strafe stehen kann und was nicht.

Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot

Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot hat Verfassungsrang. Es ist in Artikel 103 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) niedergeschrieben:

„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“

Diese Vorschrift hat mehrere Aussagen: Eine Strafnorm muss

  • immer ein formelles (Parlaments-) Gesetz sein,
  • die Strafbarkeit muss hinreichend bestimmt sein,
  • ein Gesetz darf keine Tat bestrafen, die vor Inkraftteten des Gesetzes passierte (Rückwirkungsverbot),
  • außerdem gibt es ein Analogieverbot.

Warum ist der Artikel 103 so wichtig?

Die Vorschrift hat im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland eine ganz besondere Bedeutung:

Einerseits soll jeder Bürger nur in das Gesetz blicken müssen, um zu erkennen, welche Pflichten er hat, und bei welcher Handlung ihn eine Strafe erwartet. Das muss klar und verständlich sein, denn nur so kann er von seinen Freiheiten Gebrauch machen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Eine Bestrafung durch den Staat soll das letzte Mittel sein („ultima ratio“), und eine Strafe muss klar und verständlich angedroht werden, damit die Androhung der Strafe selbst schon abschreckend genug wirkt.

Andererseits soll die Norm staatliche Willkür ausschließen. Warum dieses Vorhaben im Hinblick auf die Schaffung des Grundgesetzes eine ganz besondere Bedeutung hatte, wird klar, wenn man sich vor Augen führt, was in der Zeit vor Ende des zweiten Weltkriegs geschehen ist.

Hintergrund: Willkürmaßnahmen in der Diktatur

Sowohl die Regierung, als auch Gesetzgebung und Justiz haben im Dritten Reich zu einer Willkürherrschaft beigetragen, indem sie rechtsstaatliche Grundsätze systematisch missachteten. Menschen wurden ohne hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage verfolgt, verurteilt und getötet. Das ging sogar so weit, dass der Präsident des Volksgerichtshofs (jemand, die für mehr als 2600 Todesurteile mitverantwortlich war) in einem Strafprozess von sich gesagt haben soll, „ganz ohne Recht“ oder „ganz ohne Strafgesetz“ kurzen Prozess zu machen.

Willkür, befördert durch das Gesetz

Auch die Gesetze trugen in dieser Zeit zur Ermöglichung von willkürlichen Strafen bei. So lautete § 2 des Strafgesetzbuchs (StGB) zu dieser Zeit: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.“ Dem Bestimmtheitsgebot entspricht so eine Norm überhaupt nicht. Was vom „Grundgedanken des Strafgesetzes“, und was vom „gesunden Volksempfinden“ umfasst ist, wusste nur der Richter. Er konnte es so auslegen, wie es gerade passte. Das Urteil stand oft vor der Verhandlung fest, der formelle Prozess diente nur der Zurschaustellung der Angeklagten.

Das Grundgesetz als rechtsstaatliche Verfassung

Das Grundgesetz ist als Gegenentwurf zu diesem System konzipiert: Alle staatliche Gewalt – Exekutive, Legislative und Judikative – ist durch Artikel 1 GG verpflichtet, die Menschenwürde zu schützen. Darüber hinaus bekennt sich das Deutsche Volk zu den Menschenrechten, und es steht jedem der Rechtsweg offen, wenn der Staat ihn in seinen Rechten verletzt. Außerdem wurde mit Artikel 102 GG die Todesstrafe abgeschafft, und in Artikel 103 GG stehen die rechtsstaatlichen Grundsätze geschrieben, gegen die in den Jahren zuvor so horrend verstoßen wurde.

Was ist von dem Bestimmtheitsgebot umfasst?

Klar ist folgendes: Einem Begriff aus dem Gesetz kann man verschiedene Bedeutungen beimessen. Das heißt auch: Wenngleich ein bestimmtes Wort im Gesetz steht, kann man das Wort – und damit auch das Gesetz – auf verschiedene Art und Weise interpretieren. Irgendwo verläuft aber eine Grenze. Hierzu einige Beispiele:

Beispiel 1: Der „Pilzbeschluss“

Ein Strafgesetz (das Betäubungsmittelgesetz von 1994) benannte als Betäubungsmittel die aufgeführten „Stoffe“ im Anhang des Gesetzes. Darin waren genannt: „Pflanzen, Pflanzenteile oder Pflanzenbestandteile“. Nun betrieb 2004 jemand Handel mit psilocinhaltigen („rauschmittelhaltigen“) Pilzen. In der Wissenschaft hat sich inzwischen die Vorstellung, was ein Pilz ist, gewandelt: Pilze wurden 2004 nicht mehr als Pflanzen angesehen. Die Frage: Kann der Händler trotzdem bestraft werden?

Das Bundesverfassungsgericht sagte in seinem Beschluss vom 4. September 2009 (Az.:2 BvR 338/09), dass eine Bestrafung trotzdem möglich ist. „Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation.“ Was darüber hinausgeht, sei nicht mehr strafbar. Worte wandeln sich im Laufe der Zeit. Richter müssen bei der Auslegung eines Gesetzes berücksichtigen, ob das neue Verständnis des Wortes schon so sehr verbreitet ist, dass das alte Verständnis verdrängt wurde. Auch heute würden noch so gut wie alle Menschen Pilze als Pflanzen bezeichnen, unabhängig davon, welches Verständnis in der Wissenschaft vorherrscht. Es war also laut Verfassungsgericht erkennbar, ob der Handel mit Pilzen noch von der Strafe umfasst ist.

Beispiel 2:

Die Sitzblockade

Gelegentlich kommt es vor, dass Demonstranten nicht nur ihre Meinung in einer öffentlichen Versammlung kundtun, sondern bestimmte Orte mit ihren Körpern blockieren, um ihre Ziele durchzusetzen. Ist das strafbar?

Hierzu gab es mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Straftat „Nötigung“. Der Grundtatbestand der Nötigung ist in § 240 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) wie folgt normiert:

Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Vereinfacht gesagt ist es Nötigung, mit vorgehaltener Faust zu drohen: „Tu etwas, oder dir passiert etwas Schlimmes.“ Jetzt könnte man sich folgende Frage stellen: Warum sollte das Herumsitzen dann strafbar sein? Was hat denn das mit einer Drohung oder Gewaltanwendung zu tun?

Das Strafgesetz selbst wurde vom Verfassungsgericht nicht beanstandet. „Gewalt“ ist zwar ein Begriff, den man relativ weit auslegen kann, es ist aber für den einzelnen Bürger verständlich, was noch vom Wortlaut umfasst ist.

Ein Problem waren die Sitzblockadefälle, weil die Strafgerichte das Wort „Gewalt“ sehr weit ausgelegt haben. Der Begriff „Gewalt“ ist so zu verstehen, dass irgendwie etwas körperlich mit Kraftentfaltung passiert. Für die Strafgerichte hat als „Gewalt“ allerdings schon ausgereicht, dass jemand nur körperlich anwesend sein muss, und dadurch eine „gewichtige psychische Einwirkung“ verursacht. Körperliche Anwesenheit unter „Gewalt“ zu fassen, und das wage Kriterium „gewichtige psychische Einwirkung“ geht zu weit. Diese Art der Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt, weil sie gegen das Bestimmtheitsgebot verstößt.

Gilt das Bestimmtheitsgebot nur im Strafrecht?

Nein.

Jedes staatliche Handeln muss klar und bestimmt sein. Je nachdem, wie stark es in die Rechte der Bürger eingreift. Das Strafrecht greift besonders stark in Rechte ein (allgemeine Handlungsfreiheit, Freizügigkeit, Freiheit der Person, allgemeines Persönlichkeitsrecht, …). Deshalb gelten im Strafrecht auch besondere Maßstäbe.

Wie weitreichend dieses Gebot ist, können Sie diesem Artikel entnehmen, in dem wir für Sie eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim aufbereitet haben. Nicht nur Strafgesetze müssen hinreichend bestimmt sein, auch Bußgelder haben einen bestrafenden Charakter und greifen in Grundrechte ein. Das fällt insbesondere auf, wenn man das Strafgesetzbuch und das Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) vergleicht. In dem genannten Artikel geht es um ein einfaches Parkverbot – ein sehr schönes Beispiel dafür, wie umfangreich das Bestimmtheitsgebot ist!

Umut Schleyer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht in Berlin