Nach einem Unfall herrscht zunächst Chaos: Autoteile liegen auf der Straße, der Verkehr stockt, und es besteht eine Gefahrenstelle für andere Verkehrsteilnehmer. Die Unfallbeteiligten sichern im besten Fall direkt die Unfallstelle ab, helfen – sofern es welche gibt –Verletzten, und rufen die Polizei. Dann dreht sich meist alles nur noch um eine Frage: Wer war eigentlich schuld an dem Unfall?

Dabei werden die Beteiligten häufig einen unterschiedlichen Unfallhergang beschreiben. Niemand gibt gerne eigene Fehler zu, insbesondere nicht gegenüber Fremden. Bei einem Schadensersatzprozess (der oft dem Unfall folgt) ist das auch nicht ratsam, denn wer einmal einen Fehler eingesteht – ob berechtigt oder nicht – kommt von dieser Behauptung nicht mehr so schnell weg. Und auch Zeugen machen oft widersprüchliche Angaben zu einem Unfall. Manchmal können sie zudem nicht viel zur Aufklärung beitragen, weil sie nur die Kollision gehört, aber nichts gesehen haben (Knallzeugen).

Eine Unfallrekonstruktion – die Lösung?

Aber wer beurteilt nun, wie sich ein Unfall tatsächlich abgespielt hat? Bei mehr als 2,5 Millionen Unfällen pro Jahr in Deutschland besteht ein reges Interesse daran, zuverlässige Aussagen zu dieser Frage zu bekommen. Und weil dahinter rechtlich und wirtschaftlich bedeutsame Fragen stehen, hat sich schon seit langem ein Markt für die Klärung solcher Fragen etabliert. Es gibt einen kompletten Wirtschaftszweig, der sich mit Unfallanalytik und Unfallrekonstruktion befasst.

Richter können die Frage nicht immer allein beantworten. In Zivilprozessen, bei dem Tatsachen strittig sind, kommen deshalb häufig Sachverständige zum Einsatz. Die können entweder von den beiden Parteien beauftragt oder vom Gericht bestellt werden. Es gibt Sachverständige für fast jedes Gebiet: Von der Frage, ob ein Fahrzeug ordnungsgemäß repariert wurde, bis zur Frage, ob eine Schlumpf-Sammelfigur ihren Preis wert ist, oder wann ein Bierkrug ein gefährliches Werkzeug ist. Für Unfallanalysen gibt es dementsprechend viele Sachverständige, weil es eine große Nachfrage gibt.

Wie läuft eine Unfallanalyse ab?

Fragen, die sich bei einem Unfallhergang regelmäßig stellen, sind folgende:

  • Welches Fahrzeug hat sich wie bewegt?
  • War die Beleuchtung eingeschaltet?
  • Hat einer der Beteiligten geblinkt?
  • Waren technische Mängel oder menschliches Fehlversagen die Ursache?
  • Wie schnell waren die Beteiligten unterwegs?
  • Wer hat gebremst?

Eine Unfallrekonstruktion soll auf solche Fragen die Antworten geben.

Die Grundlagen für eine Unfallrekonstruktion liefern vor allem:

  • Beschädigungen und Lackabrieb an Fahrzeugen und der Umgebung,
  • Reifenspuren und Flüssigkeiten auf der Straße,
  • die Ausbreitung von Trümmerteilen,
  • Informationen aus dem Bordcomputer und
  • die Position der Fahrzeuge zueinander.

Ist ein Rekonstruktionsgutachten sinnvoll?

Eine Unfallrekonstruktion ist kein Allheilmittel für fehlende Beweismittel. Anders als man es aus Kriminalfilmen kennt, können nicht immer alle Spuren zu einem perfekten Bild ergänzt werden. Wenn die Polizei nicht gerufen wurde, die Unfallstelle schon gereinigt ist, es keine Zeugen gibt, und keine Fotos von der Unfallstelle existieren, wird es im Gerichtsprozess immer schwierig, seinen Anspruch zu beweisen. Der Geschädigte als Kläger muss nämlich beweisen, dass ihm ein Schadensersatzanspruch zusteht. Schafft er das nicht, geht er nicht nur leer aus, sondern trägt auch die Prozesskosten (Ausnahme: Rechtsschutzversicherung). Bei Unfällen mit erkennbar geringen Schäden (Bagatellschäden, z.B. 700,- Euro Lackschaden) ist es wegen der Schadensminderungspflicht unangebracht, ein teures Gutachten (ca. 1500-2000,- Euro) einzuholen, zumal sich aus kleinen Schäden oft kaum Schlussfolgerungen ableiten lassen. Außerdem kann nicht alles durch ein Rekonstruktionsgutachten ermittelt werden.

Wann muss das Gericht ein Gutachten einholen?

Zum verfassungsrechtlich verankerten rechtlichen Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG)) gehört auch, dass erhebliche Beweisanträge (zu Unfallrekonstruktionsgutachten) berücksichtigt werden. So urteilte der Bundesgerichtshof (BGH) am 10.04.2018. Ein Gericht darf also nicht Beweisanträge ablehnen, ohne dass es dafür eine Stütze im Zivilprozessrecht gibt. Tut es das doch, dann kann die Entscheidung des Gerichts durch Rechtsmittel (Berufung und Revision) angegriffen werden. Allerdings kann ein gerichtliches Unfallrekonstruktionsgutachten auch eine unzulässige Amtsermittlung darstellen. In diesem Fall ist es sinnlos, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Ob sich ein Antrag als sinnvoll darstellt, kann ein Rechtsanwalt klären.

Wer trägt die Kosten?

Im Zivilprozess muss der Kläger gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) einen Kostenvorschuss tragen. Das gilt nicht nur für die Klageschrift, sondern auch für jede Antragsschrift (Beweisanträge). Egal, ob er das Rekonstruktionsgutachten also selbst einholt, oder durch das Gericht einholen lässt, die Kosten muss der Kläger vorstrecken. Sollte er den Prozess gewinnen, dann hat ihm der Beklagte die Prozesskosten gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) zu erstatten. Verliert er den Prozess, dann bleibt er auf den Kosten sitzen. Außergerichtliche Kosten (zum Beispiel außergerichtliche Gutachterkosten, Reparaturkosten, Mietwagenkosten) kann der Kläger – sofern die Kosten zur Rechtsdurchsetzung oder zur Behebung des Schadens erforderlich sind, und keinen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht oder das Wirtschaftlichkeitsgebot darstellen – als Teil seines Schadensersatzanspruchs geltend machen.

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Umut Schleyer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht in Berlin