Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet der Begriff „Prognoserisiko“ nichts Anderes als „das Risiko, mit seiner Vorhersage falsch zu liegen“.

Das Prognoserisiko in der Wirtschaft

Ein gutes Beispiel hierfür sind die Prognoserisiken eines Unternehmers. Er muss ständig zukünftige Geschehnisse vorhersagen, die für ihn mit finanziellen Risiken behaftet sind: Wie viele Produkte muss ich anfertigen? Würde sich ein Investitionskredit für mich lohnen? Wie viele Arbeiter muss ich dafür einstellen? Lohnt sich eine Investition im Ausland?

Liegt der Unternehmer mit seinen Einschätzungen falsch, dann verwirklicht sich das Prognoserisiko. Das bedeutet regelmäßig, dass er kostbare Ressourcen verschwendet, und nicht den optimalen Nutzen aus seinen Möglichkeiten zieht. Fertigt er zu viele Produkte an, dann hat er höhere Kosten. Fertigt er zu wenige an, dann hätte er mehr Einnahmen erzielen können. Stellt er zu viele Arbeiter ein, ist der Betrieb zu unproduktiv, und stellt er zu wenige ein, kann er nicht genug produzieren.

Der Begriff des Prognoserisikos ist daher essentiell für die Wirtschaft, und Prognosen müssen möglichst präzise getroffen werden, wenn das damit verbundene Risiko hoch ist.

Schadensersatz beim Unfall

Ein Prognoserisiko kann es auch im Rahmen von Verkehrsunfällen geben. Wer im Rahmen eines Verkehrsunfalls geschädigt wird, hat gegen den Unfallverursacher einen Schadensersatzanspruch. Er kann also von diesem Schädiger verlangen, dass er ihn so stellt, als wäre der Unfall nie passiert (Naturalrestitution). Das heißt vor allem, dass er Reparaturkosten, Gutachterkosten, Mietwagenkosten und weitere Schadenspositionen ersetzt bekommen kann. Der Schadensersatzanspruch ist aber nicht grenzenlos. Geschädigte sollen durch den Schadensersatz nicht bessergestellt werden als vorher (schadensrechtliches Bereicherungsverbot). Sie dürfen außerdem nicht die Kosten explodieren lassen, um dem Schädiger „eine reinzuwürgen“, sondern müssen sich bei der Schadensbehebung wirtschaftlich vernünftig verhalten (Wirtschaftlichkeitsgebot). Die Reparaturkosten bekommt der Geschädigte deshalb nur dann ersetzt, wenn sie noch wirtschaftlich sinnvoll sind. Würde es deutlich mehr kosten, das Fahrzeug wieder in Stand zu setzen, als sich ein neues zu beschaffen, dann muss sich der Geschädigte ein neues Fahrzeug beschaffen, oder einen Teil der Reparaturkosten selbst tragen.

Wo ist das Problem?

Ein Laie muss sich nach dem Verkehrsunfall folgende Frage stellen: „Kann ich das Auto reparieren, oder trage ich dann die Kosten?“ – Als Laie kann er aber selbstverständlich nicht mit eigenen Augen einschätzen, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist, ein Fahrzeug noch zu reparieren, oder sich ein neues Fahrzeug zu beschaffen. Das Risiko, dass das die gewählte Art der Schadensbeseitigung (Reparatur) unwirtschaftlich ist, trägt grundsätzlich der Unfallgeschädigte. Aber das gilt nicht ausnahmslos.

Der Geschädigte kann nämlich auch die Wirtschaftlichkeit einer Reparatur durch ein Gutachten eines Kfz-Sachverständigen herausfinden. Ein gut ausgebildeter Sachverständiger kann eine Einschätzung dazu abgeben, wie viel eine Reparatur kostet, und ob sich eine Reparatur noch in einem angemessenen Rahmen befindet.

Wann ist eine Reparatur wirtschaftlich angemessen?

Liegen die Reparaturkosten zusammen mit dem merkantilen Minderwert 130% unter dem Wiederbeschaffungswert, dann sind sie ersatzfähig (siehe hierzu auch „130%-Grenze“).

Was, wenn unwirtschaftlich repariert wird?

Im Rahmen unwirtschaftlicher Reparaturen sind verschiedene Fehlerquellen zu unterscheiden:

  1. Fehler des Sachverständigen
  2. Fehler der Werkstatt
  3. Falsche Angaben des Unfallgeschädigten gegenüber dem Sachverständigen
  4. Auswahl des falschen Sachverständigen oder Überwachungsverschulden

Fehler des Sachverständigen

Wenn sich der Sachverständige sich irrt, und die Reparaturkosten höher sind, geht das Prognoserisiko zu Lasten des Schädigers. Das heißt: Wenn der Geschädigte im Gutachten einen Reparaturwert prognostiziert (der Sachverständige irrt sich aber), und der Geschädigte auf dieser Grundlage das Fahrzeug in Reparatur gibt, muss der Schädiger trotzdem den vollen Betrag zahlen, wenn die Reparatur diesen Betrag übersteigt. Das gilt auch für andere Fehleinschätzungen des Sachverständigen (Wiederbeschaffung dauert länger, Reparatur dauert länger, Preis für ein Ersatzfahrzeug ist höher als der ermittelte Wiederbeschaffungswert). Der Geschädigte darf sich also grundsätzlich auf die Angaben eines Sachverständigen verlassen.

Eigentlich wären die Reparaturkosten also nicht ersatzfähig gewesen – aber dieses Prognoserisiko trägt bei Vorliegen eines Gutachtens regelmäßig der Unfallverursacher, nicht der Geschädigte. Nachlesen lässt sich das in einem Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt vom 11.10.2000 und in einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 15.10.1991 (>>>hier verfügbar<<<).

Fehler der Werkstätten

Mit den Fehlern der Werkstatt verhält es sich wie mit denen des Sachverständigen: Wenn bei der Reparatur Mehrkosten entstehen, ohne dass der Geschädigte das verschuldet hat, trägt das Risiko dafür der Schädiger. Er muss also dem Geschädigten sogar dann den kompletten Betrag zahlen, wenn die Reparatur teurer wird. Das gilt sogar dann, wenn die Werkstätten und Sachverständigen den Fehler zu verantworten haben (Fehler bei der Untersuchung des Fahrzeugs, Fehler bei der Reparatur). Werkstätten und Sachverständige sind nämlich keine Erfüllungsgehilfen des Geschädigten. Ein Verschulden der Werkstätten und Sachverständigen kann einem Geschädigten deshalb nicht zugerechnet werden.

Eigenes Verschulden des Geschädigten

Ausnahmsweise kann den Geschädigten dann das Prognoserisiko treffen, wenn ihn selbst ein eigenes Auswahl- oder Überwachungsverschulden trifft. Beispiel: Er beauftragt jemanden, der erkennbar zur Erstellung eines Gutachtens nicht geeignet ist, oder bemerkt, dass der Sachverständige oder die Werkstatt grobe Fehler anstellt, ignoriert das aber. Mit der Beauftragung eines besonders qualifizierten Sachverständigen kann sich der Geschädigte dahingehend absichern. Wie mit der Auswahl des Sachverständigen verhält es sich auch mit falschen Angaben des Geschädigten gegenüber der Werkstatt oder dem Sachverständigen: Wenn eigenes Verschulden des Geschädigten zu den Mehrkosten führt, trägt er das Prognoserisiko. Wenn laut Gutachten die Reparaturkosten über der 130%-Grenze liegen, trägt er ebenfalls das Risiko.

Sollte man also blind auf ein Gutachten vertrauen?

Grundsätzlich darf man als Unfallgeschädigter auf das Gutachten eines Sachverständigen vertrauen, es sei denn, ein gravierender Fehler hätte auch einem Laien auffallen müssen. Einer solcher Fall ist uns nicht bekannt, so dass man als Unfallgeschädigter vom Gutachten des Sachverständigen „geschützt“ wird. Das ist einer der großen Vorteile, einen unabhängigen Sachverständigen zu beauftragen.

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Umut Schleyer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht in Berlin