Live-Expert-System

oder

gibt es eine gute Alternative zum Unfall-Gutachter seiner Wahl?

1. Worum geht es in diesem Artikel?

Viele Unfallgeschädigte kennen ihre Rechte nicht und wissen nicht, was man nach einem Unfall veranlassen soll/muss. Viele wissen auch nicht, was man auf keinen Fall tun sollte. Wenn man unverschuldet in einen Unfall verwickelt wurde, ist man so zu stellen, wie ohne Unfall. Das bedeutet, dass der Unfallgegner und seine Haftpflichtversicherung alle unfallbedingten Schäden ersetzen müssen. Um zu wissen, was kaputt und wie hoch der Schaden ist, sollte man unbedingt einen Gutachter / Sachverständigen seiner Wahl beauftragen. Darüber hinaus sollte man einen Fachanwalt für Verkehrsrecht beauftragen.

Wir hatten bereits darüber berichtet, dass die Haftpflichtversicherungen alles Mögliche unternehmen, um den Unfallgeschädigten am Gutachter und Anwalt seiner Wahl „vorbeizusteuern„. Mittlerweile gibt es sogar Apps, die verhindern sollen, dass der Geschädigte umfassend und unabhängig beraten wird. Diesen Artikel kann man hier nachlesen.

Live-Expert-System

Im Zeitalter der Digitalisierung und des technischen Fortschritts gibt es auch zahlreiche Ideen, wie man den Gutachter bzw. Sachverständigen vor Ort ersetzen kann. Die Konkurrenz unter den Gutachtern / Sachverständigen ist groß. Es gibt eine Firma die ein sog. Live-Expert-System anbietet. Wir haben dieses System sowohl rechtlich als auch technisch beleuchten lassen.

2. Wie soll das Live-Expert-System funktionieren?

Der Anbieter beschreibt es auf seiner Internetseite (www.live-expert.de/ionnovation) wie folgt:

„Zum Start der LIVE-Übertragung verbinden sich der Live-Expert Assistent und der Kfz-Sachverständige via Internet. Während der LIVE-Übertragung zeigt der Kfz-Meister als Live-Expert Assistent dem Sachverständigen auf dessen Anweisung hin – mit Hilfe der Live-Expert Digitalkamera – das Fahrzeug. Er fungiert somit als verlängerter Arm des Kfz-Sachverständigen im Reparaturbetrieb. Der Kfz-Sachverständige sitzt während der Live-Übertragung in der Live-Expert-Zentrale vor zwei Bildschirmen und dirigiert den Fachmann in der Werkstatt rund um das Fahrzeug. Der Live-Stream von der Werkstatt zum Kfz-Sachverständigen wird in Echtzeit auf einen der beiden Monitore des Sachverständigen übertragen. Der Sachverständige löst die benötigten Fotos für die Dokumentation selbst während der Übertragung aus und erstellt parallel dazu auf dem zweiten Bildschirm zeitgleich die Schadenkalkulation. Nach etwa 20-45 Minuten liegt die Kalkulation als fundierte Entscheidungsgrundlage vor.“

Somit ist der Sachverständige nicht persönlich vor Ort und nimmt das beschädigte Fahrzeug nicht persönlich in Augenschein. Es wird vielmehr von einem Mitarbeiter einer Werkstatt bzw. eines Autohauses bedient.

3. Wird das Live-Expert-System von den Gerichten akzeptiert?

Hier gibt es keine einheitliche Rechtsprechung. Es gibt jedoch einige Gerichte, die das System in Frage stellen, vor allem, weil es die gegnerischen Haftpflichtversicherungen bemängeln. Das hat zur Folge, dass diverse Klagen von Unfallgeschädigten –die dieses System genutzt haben– abgewiesen und/oder die Kosten für das Live-Expert-System nicht zugesprochen wurden. Ich habe mir mal das  Live-Expert-System unter anderem Folgendes festgestellt:

„Mir sind diverse Urteile bekannt, bei denen die Schadenersatzansprüche von Unfallgeschädigten ganz oder zum Teil abgewiesen wurden; unter anderem das Urteil des Amtsgerichts Dachau vom 30.1.2013 – zum Aktenzeichen 3 C 1146/10; Urteil des Amtsgerichts Freudenstadt vom 11.10.2012 zum Aktenzeichen 4 C 607/11; Urteil des Amtsgerichts Dannenberg vom 20.09.2016 zum Aktenzeichen 31 C 422/15.

Das Amtsgericht Freudenstadt hat die Klage unter anderem aus den folgenden Gründen abgewiesen:

„Die Kosten für das von der Klägerin vorgelegte Gutachten des Ingenieurbüros … sind nicht erstattungsfähig. Wie der Sachverständige … in seinem Gutachten ausführlich begründet und vom Gericht nachvollzogen dargelegt hat, ist ein auf dieser Grundlage erstelltes Gutachten aufgrund der vom Sachverständigen … ausführlich dargelegten Schwächen ungeeignet zur Frage der Schadenserstattung. Dies gelte erst recht dann, wenn aufgrund des Alters des Fahrzeugs neben dem Schadensumfang zur Festsetzung des merkantilen Minderwerts auch der Gesamtzustand des Fahrzeugs und die Unfallfreiheit beurteilt werden solle.“

Das Amtsgericht Dannenberg hat die Klage eines Unfallgeschädigten mit folgender Argumentation abgewiesen:

„Der Ausgleich von Sachverständigenkosten ist nicht erforderlich, wenn der Geschädigte ein Begutachtungsverfahren (hier: Live Expert System) gewählt hat, das nicht geeignete war, zu angemessenen Ergebnissen zu kommen. Dann kann auch keine Bezahlung einer solchen Begutachtung verlangt werden.“

Wie man diesen Urteilen entnehmen kann, gibt es ein großes Risiko, dass man als Unfallgeschädigter auf seine Schadenersatzansprüche ganz oder teilweise sitzen bleibt, wenn man das Live-Expert-System verwendet.“

4. Was sagen andere Unfall-Gutachter bzw. Sachverständige zu diesem System?

Wir haben Bernd Bischoff befragt. Er ist seit 2013 TÜV- zertifizierter Kfz – Sachverständiger und Autokaufcoach. Er konnte uns zu diesem Thema sinngemäß Folgendes mitteilen:

„Für einen freien Kfz – Sachverständigen klingt dieses System auf dem ersten Blick ja interessant. Wenn ich das System für mein Sachverständigenbüro einsetzen würde, könnte ich Kunden deutschlandweit bedienen, ohne auch nur einmal das Büro zu verlassen. Auf dem zweiten Blick erkaufe ich diesen Vorteil aber mit der Tatsache, dass ich so kein unangreifbares Gutachten produzieren kann. Im Zweifel könnte ich sogar Gefahr laufen, mich sogar strafbar zu machen. Unter dem Strich wäre der Geschädigte so oder so der Dumme. Das Gutachten würde als nicht brauchbar von den Versicherungen abgelehnt und auch nicht bezahlt. Meine Rechnung hätte er aber dennoch zu bezahlen.

a. Aber bröseln wir die Fakten einmal ein wenig auf.

Bei diesem System würde ich zur Schadensbegutachtung vor dem Bildschirm sitzen und den Werkstattmeister wie ferngesteuert um das zu begutachtende Fahrzeug lenken und mir per Videoübertragung das Fahrzeug und den Schaden anschauen. Hier muss man wissen, dass der Werkstattmeister bzw. die Werkstatt durchaus eigene Interessen bei der Schadensabwicklung verfolgt, die sich nicht mit den Interessen des Geschädigten decken müssen (beispielsweise Totalschaden vermeiden um Reparaturauftrag zu bekommen oder Totalschaden herbeiführen um Neuwagen zu verkaufen). Aus der Praxis ist bekannt, dass nicht sehr ausgeprägte Spurenbilder bildlich schwer zu dokumentieren sind. Jeder der sich z.B. beim Gebrauchtwagenkauf auf Grund der perfekten Bilder im Internet zur Fahrzeugbesichtigung begeben hat, um vor Ort dann festzustellen, dass das Fahrzeug Dellen, Kratzer und Roststellen hat, kann das nachvollziehen. Mit geschickter Kameraführung und Ausleuchtung kann man diese Schäden unsichtbar machen.

Hier soll ich mich als Gutachter auf einen fremden Werkstattmeister mit Eigeninteressen verlassen, dass er mir mit der Kamera alle relevanten Details zeigt, für die ich letztendlich unterschreiben soll.

b. Das Thema Vorschaden könnte ein Problem darstellen.

Das fängt schon bei den Vorschäden und Altschäden an. Werden diese verschwiegen, könnte, wie oben schon erwähnt, man sich eventuell strafbar machen. Gerade bei Vorschäden muss man mitunter sehr genau hinschauen. Der Geschädigte muss von diesen nichts wissen (Fahrzeug als unfallfrei gekauft) und der Werkstattmeister wird kein Interesse haben, diese aufzudecken. Für die Schadensabwicklung ist der Punkt sehr relevant. Werden Vorschäden verschwiegen, wird die Regulierung abgelehnt.

Gerade bei den modernen Autos mit viel Kunststoffteilen und anderen modernen Werkstoffen ist die persönliche Inaugenscheinnahme zwingend erforderlich. Mitunter zeigt sich am Stoßfänger nur ein kleiner Anprallpunkt, aber am Kofferraumboden sind Verwerfungen fühlbar oder im Dachbereich sind leichte Wellenbildungen durch Verzug sichtbar, die aber nur aus bestimmten Blickwinkeln sichtbar sind. Gerade diese kleinen Auffälligkeiten weisen auf größere Schäden hin und werden mit dem Kamerasystem nicht erfasst. Ob der Werkstattmeister diese Auffälligkeiten sieht oder sehen will, lasse ich mal dahingestellt.

Die Ermittlung des Wiederbeschaffungswertes setzt eine Einschätzung des Fahrzeugs voraus, wobei Pflegezustand und Geruch auch eine Rolle spielt. Geruch lässt sich bekanntlich noch nicht online übertragen. Daher ist eine Werteinschätzung eines Fahrzeuges nur nach Videobildern und Eckdaten -aus meiner Sicht- aus der Zulassung unseriös.

c. Ziehen wir das Fazit.

Aus Sicht des Sachverständigen ist dieses System ungeeignet, denn das Ergebnis ist mit dem normalen Kostenvoranschlag der Werkstatt vergleichbar (der selbst bei Bagatellschäden rechtlich schon angreifbar ist), nur dass der Sachverständige für die Werkstatt mit seiner Unterschrift den „Kopf hinhält“ und sich mehr oder weniger blind auf die Erhebungen der Werkstatt verlassen muss.

Dieses System in Händen der Versicherung sehe ich für Geschädigte als gefährlich an. Zu offensichtlich ist das Ziel, den freien Sachverständigen und den Anwalt aus der Schadensabwicklung heraus zu halten. Sehr schnelle Ergebnisse bei der Schadenaufnahme heißt nicht zwangsläufig gründliche oder richtige Ergebnisse.

Ich hatte kürzlich ein Fahrzeug zu begutachten, wo schon ein Gutachter der gegnerischen Versicherung seine Arbeit getan hatte. Dieser war bei der Besichtigung recht schnell fertig (wurde mir von der Werkstatt berichtet) und kam auf Reparaturkosten von 4.189,97 €. Nachdem ich das Fahrzeug gründlich untersucht habe, ließ ich den Stoßfänger demontieren. Nun war das gesamte Ausmaß erst sichtbar. Als Ergebnis kamen Reparaturkosten von 11.420,95 € heraus, bei denselben Stundenverrechnungssätzen.

An dem Beispiel sieht man, dass selbst bei einer nur Oberflächlichen Begutachtung vor Ort schon gravierende Fehler passieren. Diese Situation wird durch die Videoübertragung noch deutlich verschärft. Wenn der Geschädigte fiktiv abrechnen würde, hätte er, wie in dem Beispiel einen immensen Verlust und die Versicherung eine Menge Geld gespart.

Ich kann Geschädigte nur warnen, auf dieses System zu setzen, auch wenn es schnelle Ergebnisse liefern soll. „

 

5. Ergebnis

Zusammenfassend kommen wir zu dem Ergebnis, dass das Live-Expert-System vor Gericht angreifbar und aus technischer Sicht nicht optimal ist. Wir raten den Unfallgeschädigten daher, lieber einen freien und unabhängigen Gutachter / Sachverständigen vor Ort zu beauftragen.

 

Umut Schleyer – Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht