Das Integritätsinteresse (oft auch „Erhaltungsinteresse“ genannt) ist ein Begriff aus dem deutschen Zivilrecht. Es beschreibt das Interesse einer Person an der Unversehrtheit ihres Vermögens. Der Begriff hat besondere Relevanz in Bezug auf Schadensersatzansprüche.

Grundsätze bei Schadensersatzansprüchen

Es gibt verschiedene Arten von Schadensersatzansprüchen. Sie lassen sich zum Beispiel in vertragliche und deliktische Schadensersatzansprüche aufteilen. Alle Schadensersatzansprüche haben aber zumindest teilweise gleiche Voraussetzungen. Zum Beispiel muss überhaupt irgendeine Verletzungshandlung vorliegen. Das kann der Verstoß gegen einen Vertrag sein (Vertragsverletzung), oder die Verletzung eines absolut geschützten Rechtsguts (Eigentum, Leben, Gesundheit etc.). Daneben muss der Schadensersatzverpflichtete die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben („Vertretenmüssen“). Das heißt, dass gemäß § 276 I des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) regelmäßig Vorsatz oder Fahrlässigkeit (Verschulden) des Verletzers erforderlich ist (hier gibt es auch Ausnahmen). Außerdem muss überhaupt irgendein ersatzfähiger Schaden entstanden sein.

Schadensrecht

Wenn ein Schadensersatzanspruch besteht, stellt sich die Frage, wie umfangreich dieser Anspruch ist. Was ersatzfähig ist, und was nicht, bestimmt sich nach den §§ 249 ff. BGB. Dieser Teil des deutschen Rechts, der sich mit dem Umfang des Schadensersatzes befasst, wird auch als „Schadensrecht“ bezeichnet. Die genannten Regelungen sind angesichts der Fülle an Fällen, die sie abdecken sollen, ziemlich präzise und verständlich abgefasst. Wie es so oft mit dem Gesetz ist, gibt es aber trotzdem Unklarheiten. Weil Parteien vor Gericht sehr oft um die Höhe des Schadensersatzes streiten, haben deutsche Gerichte zu der Frage, wie umfangreich der Schadensersatz sein muss, schon sehr oft Stellung bezogen. Dabei haben sich in der Rechtsprechung auch einige anerkannte Grundsätze herausgebildet, die sich nicht alle unmittelbar aus dem Gesetz entnehmen können.

Was bedeutet nun Integritätsinteresse?

Was das Wort „Integritätsinteresse“ bedeutet, lässt sich gut an einem vertraglichen Schadensersatzanspruch darstellen. Wenn jemand Schadensersatz erhalten möchte, weil ein Vertrag verletzt wurde, kann er entweder das positive Interesse oder das negative Interesse einfordern. Er kann also fordern: „Schädiger, ich will von dir so gestellt werden, als wäre der Vertrag ordnungsgemäß erfüllt worden“ (positives Interesse). Er kann aber auch fordern: „Schädiger, stelle mich so, als hätte ich nie etwas von diesem Vertrag gehört“ (negatives Interesse). Egal, was er fordert – das Integritätsinteresse ist sowohl vom positiven als auch vom negativen Interesse umfasst.

Hierzu folgendes Beispiel:

Herr X beauftragt einen Malermeister mit dem Neuanstrich seiner Wohnung. Die beiden schließen also einen Werkvertrag miteinander.

Variante 1 – positives Interesse

Der Malermeister erledigt seine Arbeit sehr gut. Allerdings kleckert er ein bisschen, und ein paar Möbel werden dadurch beschädigt. Nun kann Herr X das positive Interesse fordern. Wenn er das tut, fordert er, so gestellt zu werden, als hätte der Malermeister ordnungsgemäß den Vertrag erfüllt. Dabei muss er natürlich auch Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen (vgl. § 241 II BGB) des X, also auf dessen Eigentum an den Möbeln, nehmen. Tut er dies nicht, verletzt er eine Nebenpflicht aus dem Vertrag. Bei solchen Nebenpflichten kann es sich um Schutzpflichten, Obhutspflichten oder Rücksichtnahmepflichten handeln. Wenn X nun fordert, so gestellt zu werden, als wäre der Vertrag ordnungsgemäß erfüllt worden, verlangt er also auch, so gestellt zu werden, als hätte der Malermeister nicht gekleckert, als hätte er also nicht seine vertraglichen Rücksichtnahmepflichten verletzt.

Variante 2 – negatives Interesse

Der Malermeister ist wohl heute komplett mit dem falschen Fuß aufgestanden. Er tritt in die Wohnung ein, stolpert mit seiner Leiter und zerstört alle Vasen des Herrn X, die dieser in seiner Vitrine hatte. Herr X ist ein fanatischer Vasensammler, und es ist ihm nicht mehr zumutbar, dass der Malermeister jetzt noch den Auftrag in der Wohnung ausführt. Herr X verlangt daher das negative Interesse. Er will also so gestellt werden, als hätte er niemals etwas von dem Vertrag gehört. Dann wäre nämlich auch nicht das Eigentum an den Vasen verletzt worden, mithin nicht sein Integritätsinteresse betroffen.

Abgrenzung zum Äquivalenzinteresse

Bei Verträgen muss man zwischen Integritätsinteresse und Äquivalenzinteresse unterscheiden. Das Äquivalenzinteresse kann nur im Rahmen des positiven Interesses geltend gemacht werden. Es schützt nämlich das Interesse am Erhalt der vertragsgemäßen Primärleistung. In unserem Beispiel wäre das der Neuanstrich selbst, unabhängig vom Kleckern oder Zerstören.

Aber nicht nur bei Verträgen ist das Integritätsinteresse geschützt. Gerade bei außervertraglichen Schadensersatzansprüchen ist nur das Integritätsinteresse geschützt. Dabei ist gerade nicht das Äquivalenzinteresse geschützt, weil ja kein Vertrag besteht. Eine vertragliche Primärleistung kann logischerweise nicht eingefordert werden. Das klassische Fallbeispiel für einen außervertraglichen Schadensersatzanspruch ist der Verkehrsunfall. Die Beteiligten haben hier nie einen Vertrag miteinander gehabt. Trotzdem werden ihre Rechtsgüter über § 823 I, II BGB sowie die §§ 7 I, 18 I StVG geschützt. Sie werden also davor geschützt, dass jemand ihr Vermögen (Eigentum am Fahrzeug, körperliche Integrität) verletzt.

Verkehrsrecht:

Bei etwa 2,5 Millionen Unfällen im Jahr allein in Deutschland ist klar ersichtlich, dass das Thema des Integritätsinteresses vor Gericht regelmäßig eine große Rolle spielt. Nicht zuletzt, weil Haftpflichtversicherer ungerne zahlen, und Unfälle daher oft vor Gericht gehen. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat deshalb schon oft zu diesem Thema Stellung bezogen. Ein wichtiger Aspekt der Rechtsprechung des BGH ist die 130%-Grenze als Ausprägung des Integritätsinteresses. Demnach kann ein Fahrzeug unter bestimmten Voraussetzungen selbst dann reparieren, wenn die Reparaturkosten über dem Wiederbeschaffungswert liegen.

Hierzu ein Auszug aus einem BGH-Urteil:

„Nach einem Verkehrsunfall mit wirtschaftlichem Totalschaden [kann] der Geschädigte zwar grundsätzlich Ersatz des Reparaturaufwands bis zur Grenze von 130% des Wiederbeschaffungswertes des Fahrzeugs verlangen, wenn die Reparatur fachgerecht und vollständig durchgeführt werde. Der sogenannte Integritätszuschlag von 30% [ist] jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn der Geschädigte das Fahrzeug nach der Reparatur auch tatsächlich weiter benutzen [will], nicht dagegen, wenn er von vornherein die Absicht [hat], es danach alsbald zu veräußern.“ (BGH, Urteil vom 13.11.2007)

Umut Schleyer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht in Berlin