Das Bundesverfassungsgericht (oft „BVerfG“ abgekürzt) ist ein Gericht mit Sitz in Karlsruhe. Oft wird das Bundesverfassungsgericht als „höchstes deutsches Gericht“ bezeichnet. Das ist etwas missverständlich formuliert. Denn anders als viele ausländische Gerichtssysteme hat Deutschland keine „Superrevisionsinstanz“. Das heißt, dass Deutschland kein Gericht hat, das die Entscheidungen aller anderen Gerichte auf sämtliche Rechtsverletzungen prüft. Stattdessen überwacht das Bundesverfassungsgericht die Einhaltung der Verfassung, also des Grundgesetzes (GG) .

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt also nur über Verfassungsstreitigkeiten, es befindet sich außerhalb des Instanzenzugs . Gegenstand eines Rechtsstreits kann nur Verfassungsrecht des Bundes sein, also was Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes betrifft.

Es ist außerdem ein Verfassungsorgan. Das heißt, dass es eins der Organe des Staates ist, das in dem Grundgesetz explizit vorgesehen ist. Gegenüber allen anderen Verfassungsorganen ist das Bundesverfassungsgericht selbständig und unabhängig (§ 1 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Neben dem Bundesverfassungsgericht gibt es auch die Verfassungsgerichte der Länder (Landesverfassungsgerichte).

Streitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht

Nicht jeder kann wegen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns in jedem Fall vor das Verfassungsgericht ziehen. Einerseits sind die Verfahrensarten in Art. 93 Abs. 1 GG und § 13 BVerfGG enumerativ aufgelistet. Das heißt, dass nur bestimmte Staatsorgane oder Personen in bestimmten Fällen vor das Bundesverfassungsgericht ziehen können.

Andererseits muss auch immer der Rechtsweg erschöpft sein. Wenn also die Möglichkeit besteht, zuerst die ordentlichen Gerichte (Straf- und Zivilgerichte), die Verwaltungsgerichte, Arbeitsgerichte, Finanzgerichte oder Sozialgerichte anzurufen, dann muss das zuerst getan werden. Erst wenn in der letzten Instanz entschieden wurde, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden.

Verfahren des Bundesverfassungsgerichts sind gemäß § 34 I BVerfGG kostenfrei. Bei Missbrauch kann das Gericht jedoch eine Gebühr von bis zu 2.600,- Euro auferlegen.

Die Verfassungsbeschwerde

Die wahrscheinlich bekannteste Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht ist die Verfassungsbeschwerde. Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG bzw. § 13 Nr. 8a, § 90 Abs. 1 BVerfGG kann jedermann (!) mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt (Exekutive, Legislative, Judikative – also Behörden, Gesetze und Gerichte) in seinen Grundrechten (oder grundrechtsgleichen Rechten) verletzt zu sein, eine Verfassungsbeschwerde erheben. Hierzu muss man selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein.

In der Praxis ist die Individualverfassungsbeschwerde von extrem hoher Bedeutung. Von etwa 6.000 Verfahren pro Jahr sind etwa 5.800 Verfahren Verfassungsbeschwerden, also mehr als 96%. Viele richten sich gegen Urteile der Zivilgerichte. Die Erfolgsquote ist aber sehr gering: Im Durchschnitt wird nur etwa 2% aller Verfassungsbeschwerden stattgegeben.

Beispiele

Bei Verfassungsbeschwerden geht es normalerweise um die Frage, was der Staat gegenüber einem Bürger darf und was nicht. Aber nicht nur das Verhältnis zwischen Staat und Bürger ist betroffen. Die Grundrechte strahlen in alle Rechtsgebiete aus, also auch ins Zivilrecht.

Hierzu ein paar Beispiele:

  • Eine staatliche Schule darf keine Kruzifixe anbringen, weil das die Religionsfreiheit andersgläubiger Schüler verletzt (1 BvR 1087/91).
  • Der Staat darf kein Gesetz erlassen, das den Abschuss eines entführten Flugzeugs mitsamt unbeteiligter Passagiere ermöglicht, das verstößt gegen die Menschenwürde (1 BvR 357/05).
  • Der Staat darf nicht anlasslos automatisiert und flächendeckend Kfz-Kennzeichen erfassen, dieser Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist unzulässig (1 BvR 2074/05, 1 BvR 1254/07).
  • Zivilgerichte müssen das Recht auf rechtliches Gehör beachten, und zivilprozessuale Regelungen über die Präklusion verfassungskonform auslegen (1 BvR 876/84).

Verfassungsbeschwerden: Was bringt die Zukunft?

Auch in Zukunft bleibt es spannend, was Verfassungsbeschwerden für jeden einzelnen Bürger und für die Rechtspraxis mit sich bringen. Insbesondere mit fortschreitender Technik stellen sich immer neue verfassungsrechtliche Fragen: Darf der Staat Kameras mit Gesichtserkennung an einem Bahnhof anbringen? Oder den Anbieter eines E-Mail-Dienstes verpflichten, IP-Adressen an Ermittlungsbehörden zu ermitteln (2 BvR 2377/16)? Muss der Bürger für einen Personalausweis Fingerabdrücke abgeben? Kann ein Landgericht immer eine einstweilige Verfügung ohne Abmahnung und Anhörung vornehmen, oder ist das Recht auf prozessuale Waffengleichheit verletzt (1 BvR 1783/17)?

Organstreitverfahren

Neben der Verfassungsbeschwerde gibt es aber noch viele andere Verfahren. Eine weitere wichtige Verfahrensart ist das Organstreitverfahren. Dabei streiten Verfassungsorgane (mit Ausnahme des Verfassungsgerichts) um Verfassungsrecht.

Verfassungsorgane sind:

  • Der Bundestag,
  • der Bundesrat,
  • die Bundesregierung,
  • die Bundesversammlung,
  • der gemeinsame Ausschuss,
  • der Bundespräsident und
  • das Bundesverfassungsgericht.

Bund-Länder-Streitigkeiten

An Bund-Länder-Streitigkeiten sind die Bundesrepublik Deutschland sowie ein Bundesland beteiligt. Dabei geht es vor allem um die Frage, wann die Bundesrepublik zuständig ist, und wann die Bundesländer zuständig sind.

Das ist dem Umstand geschuldet, dass die Bundesrepublik Deutschland ein föderalistischer Staat und kein zentralistischer Staat ist. Der Föderalismus ist auch eines der Staatsprinzipien. Die Länder haben deshalb weitreichende Kompetenzen. Insbesondere sind sie für die Gesetzgebung zuständig, sofern nicht im Grundgesetz etwas Abweichendes bestimmt ist.

Das wohl bekannteste Bund-Länder-Verfahren ist der Streit um die Verfassungsmäßigkeit des „Adenauer-Fernsehens“. Die BRD verstieß gegen Art. 30, 83 ff. GG, indem sie die Deutschland-Fernsehen-GmbH gründete (2 BvG 1,2/60).

Normenkontrollverfahren

Es gibt auch die Möglichkeit, Gesetze im Normenkontrollverfahren zu beanstanden. Dabei kann das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit eines Bundes- oder Landesgesetzes mit dem Grundgesetz überprüfen. Darüber hinaus kann es auch die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht überprüfen. Es gibt einerseits das abstrakte Normenkontrollverfahren, andererseits das konkrete Normenkontrollverfahren. Diese Verfahren kann aber nicht jeder anstrengen.

Das abstrakte Normenkontrollverfahren

Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 13 Nr. 6 BVerfGG sind nur die Bundesregierung, die Landesregierung oder ein Viertel des Bundestags dazu berechtigt, ein abstraktes Normenkontrollverfahren anzustrengen.

Das konkrete Normenkontrollverfahren

Ein konkretes Normenkontrollverfahren kann von einem Gericht eingeleitet werden, wenn es Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes hat. Es muss dann gemäß Art. 100 Abs. 1 GG sein Verfahren aussetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen.

Sonstige Verfahren

Neben den oben genannten Verfahren gibt es auch ein paar nennenswerte Exoten. In letzter Zeit ist vor allem das Parteiverbotsverfahren wieder in die Öffentlichkeit gerückt. Derer gab es bisher insgesamt neun, davon waren zwei (gegen SRP und KPD) erfolgreich. Außerdem ist das Bundesverfassungsgericht zuständig für Beschwerden im Wahlprüfungsverfahren und für die Verwirkung von Grundrechten.

Einige Verfahren wurden auch noch nie durchgeführt, zum Beispiel die Präsidentenanklage (Art. 61 GG) oder die Richteranklage (Art. 98 II, V GG). Seit dem letzten NPD-Verbotsverfahren ist auch eine neue Verfahrensart hinzugekommen: Die Feststellung des Ausschlusses von staatlicher Parteienfinanzierung.

Umut Schleyer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht in Berlin